Zehn Jahre Dunkelheit

Bericht

Yirgalem Fisseha ist eine eritreische Lyrikerin, Journalistin und Schriftstellerin, die als politische Gefangene sechs Jahre im "Mai-Sirwa" Gefängnis inhaftiert war. Zum Internationalen Frauentag schreibt sie über mutige Frauen, die für ihre Unabhängigkeit kämpften, in einem autoritären Regime inhaftiert und gefoltert wurden und erzählt die bewegende Geschichte zweier Mütter, denen sie im Gefängnis begegnet ist.  

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Yirgalem Fisseha

Dieser Text wurde von Pietros Werasi aus dem Tigrinya ins Deutsche übersetzt. Die Originalversion in Tigrinya finden Sie hier.

Der 8. März gehört in Eritrea zu den Nationalfeiertagen, die landesweit mit vielfältigen und großen Veranstaltungen gewürdigt werden. Doch am Weltfrauentag können sich nur wenige erfreuen, während viele Frauen immer noch keine Rechte genießen und keine Gerechtigkeit erfahren.

Trauer und Scham erfüllen mich, wenn ich heute, am Internationalen Frauentag, an die vielen Frauen denke, die in den unzähligen Gefängnissen viel Leid und Elend erfahren. Denn das Land, wofür Zehntausende eritreische Frauen mit ihrem Leben bezahlt haben, ist das Gegenteil von dem geworden, was wir ersehnt und erhofft hatten.

Eritrea, am Horn von Afrika mit ca. 5 Millionen Einwohner*innen, hat 1991 nach einem 30jährigen Krieg gegen das Nachbarland Äthiopien seine Unabhängigkeit erlangt. An dem bewaffneten Kampf waren auch eritreische Frauen beteiligt, die ein Drittel der Kämpfer*innen ausmachten. Für die Unabhängigkeit und ihre Emanzipation haben sie gekämpft und einen hohen Preis bezahlt, der weltweit wenig Vergleiche hat. Nach der Unabhängigkeit Eritreas haben sie viel dazu beigetragen, rückständige Traditionen und diskriminierende Praktiken abzubauen. Ohne die aktive Beteiligung von Frauen sind die sozialen Veränderungen nicht denkbar.

Das unabhängige Eritrea, welches ein Ergebnis eines bitteren und langen Kampfes ist, endete schließlich in einer diktatorischen Alleinherrschaft. Visionen und Ziele wie Verfassung, Menschenrechte, Gerechtigkeit, Wahlen, usw. verschwanden nach und nach aus dem Leben des Landes. Die Lage der gesamten Bevölkerung verschlechterte sich massiv unter der Diktatur - und vor allem für Frauen wurde das Leben in dem Land gefährlich und unerträglich.

Viele Frauen, die für die Unabhängigkeit und ihre Rechte gekämpft hatten, wurden verhaftet und sind seit 18 Jahren spurlos verschwunden. Schwangere, Mütter von kleinen Kindern, ältere Frauen und minderjährige Mädchen sitzen ohne Gerichtsprozess jahrelang im Gefängnis, wo sie brutal gefoltert werden. Tausende Frauen fliehen aus Angst vor Folter und Verhaftungen in die Nachbarländer, wo sie in Flüchtlingslagern leben. Andere werden bei der Flucht in Richtung Nordafrika entführt, vergewaltigt und ermordet. Diejenigen, die Europa oder andere sichere Länder erreichen, tragen die Narben und Traumata mit sich.

Dies ist ein Bericht zur Erinnerung an zwei Mütter, mit denen ich von 2009 bis 2015 in Mai-Sirwa verhaftet war – acht Kilometer von der Hauptstadt Asmara entfernt. Ich bin sicher, dass sich alle, die das Militärgefängnis von Mai-Sirwa zwischen 2007 und 2017 besucht haben, an Belainesh Mesfin und Silas Negash erinnern werden.

Yirgalem Fisseha

Yirgalem Fisseha ist eine eritreische Lyrikerin, Journalistin und Schriftstellerin. Bis zu ihrer Freilassung im Januar 2015 war sie sechs Jahre als politische Gefangene im „Mai-Sirwa“ Gefängnis unter schlimmsten Bedingungen inhaftiert, ohne Anklage oder Gerichtsverfahren. Seitdem droht ihr eine erneute Verhaftung und sie ist auf der Flucht. Seit Dezember 2018 ist sie Stipendiatin des Writers-in-Exile Programms des deutschen PEN Zentrums (Poets, Essayists, Novelists).

Belainesh Mesfin

Belainesh Mesfin ist eine Mutter, die die meisten Jahre ihrer Haftzeit in der Zelle mit der Nummer 36 verbracht hat. Ihr Alter würde ich auf Ende 60 bis Anfang 70 schätzen. Nur in der Zeit, in der es ihr erlaubt war, zur Toilette zu gehen, konnte ich sie sehen. Ihre beiden Hände waren stets mit Handschellen gefesselt. Ansonsten war sie immer in der Zelle eingesperrt. Ich fragte mich immer, was Belainesh gedacht und gemacht hat. Vielleicht wird die Zelle eines Tages davon erzählen. Wenn ich an sie denke, erinnere ich mich vor allem daran, wie schwer es ihr fiel, mit gefesselten Händen ihren Urin-Kanister zu tragen und zu entsorgen. Es ist unmöglich, diese Szenen zu vergessen.

Jedes Mal, wenn ich an die Häftlinge denke, die in Handschellen (manche auch in Fußschellen) gefesselt waren, wurde mir schlecht. Einmal habe ich aus einem Jutesack, der als Bodendecke benutzt wurde, einzelne Stränge herausgenommen und zu einem dünnen Seil verflochten. Mit aller Mühe fesselte ich meine beiden Hände damit. Ich versuchte alles zu machen, was die Gefangenen mit gefesselten Händen in ihren Zellen und während des Toilettengangs durchmachen mussten. Nicht mal für wenige Stunden hielt ich es aus. In diesem Moment konnte ich meine Gefühle nur in Tränen zum Ausdruck bringen.

Silas Negash

Silas Negash wurde zusammen mit ihrem Bruder (Kidane) und ihrem Ehemann (Tekie) verhaftet. Ihre vier Kinder, eines davon ein kleines Baby, das noch gestillt wurde, blieben allein zu Hause. Ich lernte Silas kennen, als wir beide in der einzigen psychiatrischen Klinik in Eritrea, dem Kidisti Mariam Hospital, waren. Sie war eine von den Häftlingen aus dem Gefängnis Mai-Sirwa, welche die Klinik regelmäßig besuchten. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, sah ich die Bilder ihrer vier Kinder vor meinen Augen, die ich überhaupt nicht kannte. Dabei musste ich immer aufpassen, dass ich ihre Kinder in ihrer Anwesenheit niemals erwähnte. Ich würde ihre Wunden nur mehr reißen. Doch Silas dachte mehr an ihren Bruder, der zusammen mit ihr verhaftet worden war, kurz danach jedoch spurlos verschwand. „Wo ist mein Bruder? …“, fragte sie immer wieder, allein in der Dunkelheit ihrer Zelle sitzend.  

Collage: Eritreische Politische Gefangene Frauen

Als wir, umgeben von Soldaten, auf dem Hof von Kidisti Mariam Hospital saßen, fragte ich sie einmal, wie es ihr gesundheitlich gehe und wie das Leben in einer Zelle sei. Sie antwortete nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf die Häftlinge und deren Bewacher gerichtet, die aus den anderen Gefängnissen hergekommen waren.

„Silas! Ich habe dich gerade gefragt, wie es dir geht“, sprach ich nochmal lauter.  

„Oh, ich habe dich gar nicht gehört. Ich beobachte gerade die Häftlinge. Ich weiß nicht, wo mein Bruder ist. Er ist spurlos verschwunden“, erwiderte sie. Ihre Augen waren mit Tränen gefüllt.  

Danach haben wir uns oft getroffen. Es war nicht einfach mit ihr zu sprechen. Alle Gesprächsthemen waren ihr schmerzhaft. Sie war verletzt und verwundet, äußerlich wie innerlich.

Zwei Jahre nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis besuchte ich im Jahr 2017 das Gefängnis von Adi Abeyto. Dies ist ein berüchtigtes Militärgefängnis zwischen Asmara und Mai-Sirwa, wo Essen für Gefangene in Mai-Sirwa verteilt wird. Alle Besucher*innen mussten in einer Schlange stehen und warten. Da begann ich mit einer Frau neben mir ein Gespräch. Als ich erfuhr, aus welchem Stadtviertel sie kam, wurde ich neugierig. Sie kam aus demselben Viertel wie Silas. Ich fragte sie, ob sie das Paar kenne, das ohne ihre Kinder verschleppt und verhaftet wurde.

„Ja, ich kenne sie. Sie sind noch in Haft.“, antwortete sie.

„Wie geht‘s dem Baby, das noch an der Brust saugte, als seine Mutter verhaftet wurde?“ war eine der Fragen, die mich immer wieder beschäftigt und nicht losgelassen hatten.

„Hast du die beiden Kinder gesehen, mit denen ich vorhin gesprochen habe? Eins von beiden ist das Baby. Er hat Essen gebracht.“, sagte sie zu mir, während sie mit dem Finger auf ihn zeigte.                                                     

„Das Baby ist groß geworden und ist hier, um seinen Eltern Essen ins Gefängnis zu bringen?“ Ich konnte es kaum glauben. Für das, was ich damals dachte und fühlte, finde ich noch immer nicht die richtigen Worte.

Nach zehn Jahren Willkürhaft wurden im Mai 2017 Belainesh und Silas zusammen mit ihrem Ehemann aus dem Gefängnis Mai-Sirwa entlassen. Ihnen war niemals ein legaler Prozess gemacht worden und vor einem Gericht gestanden hatten sie auch nicht.

Doch die schmerzvolle Frage „Wo ist mein Bruder? …“ bleibt immer noch unbeantwortet. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist.